Warum schreiben wir Geschichten?
In unserem Land sind fuer jemanden, der amerikanische oder vielleicht auch russische Filme gesehen hat, die deutschen Soldaten des Ersten und Zweiten Wekkriegs eine Masse von Robotern, die sich meist in Reih und Glied ausgerichtet und mit einer Waffe in der Hand fortbewegen und auf alles, was da lebt, schiessen. Das ist das landlaufige Bud der deutschen Soldaten, und was fuer ein Unheil auch solchen Kreaturen zustossen mag, es beruehrt den Zuschauer nicht.
Sollte aber jemand das Glueck haben, ,,Im Westen nichts Neues" von Erich Maria Remarque, einige der Romane oder Erzaehlungen von Heinrich Boell oder die Kurzgeschichten von Wolfgang Borchert gelesen zu haben, dann verblasst dieses Bild, und die deutschen Soldaten haben ploetzlich auch eine Vergangenheit und eine Gegenwart, sie besitzen ein Innenleben und schliesslich eine eigene Persoenlichkeit. Davon ausgehend und mit Bezug auf meine Erfahrungen auf dem Gebiet der Schriftstellerei, moechte ich heute darueber sprechen, warum Erzaehlungen dem Frieden zwischen den Voelkern und der Toleranz andersartigen Menschen gegenueber dienen koennen. Und wenn ich manchmal ueber meine eigenen Erfahrungen berichte, so nur deshalb, weil ich die nun wirklich kenne.
Bevor ich mich jedoch dem eigentlichen Thema zuwende, halte ich es fuer notwendig darauf hinzuweisen, dass sich meine Ausfuehrungen nur auf eine Diskussion ueber Erzaehlungen beziehen. Ich weiss dass zwischen den Worten und den Dingen, die sie bezeichnen, kein Zusammenhang besteht, sondern dass in allen Sprachen die auf das mit dem Wort gemeinte Objekt hinweisende Bedeutung auf Grund einer Konvention festgelegt wurde. Zudem ist diese Bezeichnung nicht direkt, denn sie bezeichnet zuerst die Bedeutung und dann das Objekt. Ich weiss auch, dass sich das gesprochene oder geschriebene Wort eine Linie entlang bewegt, also eindimensional ist, waehrend doch unsere subjektive und unsere objektive Welt dreidimensional ist, und wenn wir die Zeit eines Geschehnisses hinzufugen, sogar noch eine vierte Dimension dazukommt. Also ist in der Welt der Vorstellung eine Uebereinstiminung zwischen dem gesprochenen oder geschriebenen Wort und der subjektiven und der objektiven Welt ganz unmoeglich. Aber lassen Sie uns einmal von solchen Beschraenkungen absehen: Unsere Hilfsmittel sind Erzaehlungen, und Erzaehlungen wiederum unterliegen verschiedenen Notwendigkeiten, wie z. B., dass sie auf den Seiten eines Buches Gestalt annehmen muessen, dass jede Geschichte Anfang und Ende hat, waehrend doch das Leben auf dieser Welt weder Anfang noch Ende kennt, dass sich jede Handlung auf der Zeitschiene fortbewegt, waehrend sich doch in Wirklichkeit keine Handlung in abstrakter oder individueller Weise realisiert, dass eine Geschichte einen Spannungsbogen aufweisen muss oder dass die Anzahl der handelnden Personen in einem Roman und ganz besonders in einer Kurzgeschichte oder Aehnlichem beschraenkt ist. Ziehen wir all das in Betracht, so kommen wir zu der Feststellung, dass eine realistische Darstellung eine reine Fiktion ist, und dass uns Schriftstellern nichts anderes uebrig bleibt, als uns mit einer Fiktion der Wirklichkeit zufrieden zu geben. Und im Hinblick auf diese Fiktion einer Wirklichkeit moechte ich nun erklaeren, was wir machen und was realisiert werden soll, wenn wir Geschichten schreiben.
Ich glaube, dass ich seit meinem ein- oder zweiundzwanzigsten Lebensjahr schreibe, das heisst seit vierzig Jahren. Ich habe Gedichte, Prosa und kritische Schriften verfasst. Zum Abschluss meines Studiums der persischen Literatur habe ich eine Arbeit ueber Folklore in Esfahan geschrieben. Von Spielen bis zu Dokumenten des Volksglaubens habe ich alles gesammelt. Ich habe immer noch Geschichten aus dem Mund meiner Schueler, die ich nicht veroeffentlicht habe. Ein oder zwei Jahre lang habe ich auch zusammen mit minem Freund Dustchah an einem Woerterbuch der Umgangssprache gearbeitet. Eines schoenen Tages jedoch habe ich alles aufgegeben und es so, wie es war, ihm ueberlassen, weil er meistens eine oder zwei Stunden spaeter als abgemacht zu unseren Verabredungen kam. Seit meinem zwanzigsten Lebensjahr bis ein oder zwei Jahre nach der Revolution habe ich Unterricht erteilt, von der Grundschule bis zur Universitaet. Mein Ausschluss aus der Universitaet setzte meiner Lehrtaetigkeit ein Ende. Waehrend des Schah-Regimes war ich zweimal im Gefaengnis. Auch war ich seit seiner Gruendung im Jahre 1967 Mitglied des Iranischen Schriftstellerverbands. Und jetzt bin ich ein Mitglied seines vorlaeufigen Vorstands.
Ausserdem bin ich seit zwanzig Jahren verheiratet und habe zwei Kinder, Barbad und Ghasal. Meine Frau Farzaneh Taheri ist Uebersetzerin aus dem Englischen. Bis heute wurden siebzehn Buecher von mir auf persisch veroeffentlicht, sechs Romane, drei laengere Erzaehlungen und ueber dreissig Kurzgeschichten. Auch zwei Baende mit kritischen Schriften, schliesslich wurden ein Jugendbuch und ein Drehbuch gedruckt. Beim Verfassen zweier Drehbuecher nach Arbeiten von mir habe ich mit dem Regisseur Bahman Farman-Ara zusammengearbeitet. Eine Sammlung kritischer Schriften wartet auf die Druckerlaubnis. Es gibt auch Werke, die unter einem Pseudonym erschienen sind, die ich hier nicht nennen moechte.
In persischer Sprache gibt es sieben oder acht ernsthafte Interviews mit mir. Soweit ich orientiert bin, sind Werke von mir ins Deutsche, Franzoesische, Englische, Armenische, Kurdische, in Urdu und ins Japanische uebersetzt.
Im vergangenen Jahr fand sich mein Name auf zwei im Umlauf befindlichen Listen von Personen, die anscheinend umgebracht werden sollten. Zweimal haben gewisse Personen versucht, mich zu entfuehren, und wenn ich den Ausfuehrungen einiger Freunde Glauben schenken darf, dass sie Personen dabei beobachtet haben, wie sie mir aufgelauert haben, so kann ich nur sagen, dass es einem reinen Zufall zu verdanken ist, dass ich hier stehe.
Im Fernsehen meiner Heimat wurde ich als Spion der CIA bezeichnet, in einer dem rechten Fluegel nahestehenden Zeitung als Spitzel der deutschen Botschaft, und im Rahmen eines Misstrauensantrags gegen den Minister fuer Kultur und islamische Fuehrung haben oppositionelle Abgeordnete mich zweimal namentlich erwaehnt. Und der Minister hat bei seiner Verteidigung betont, keine Druckerlaubnis fuer meine Werke erteilt zu haben. Das heisst, dass in den Augen mancher Parlaments-Abgeordneter die Verweigerung dieser Erlaubnis dem Minister positiv anzurechnen ist.
Ich habe drei Preise erhalten: Zusammen mit Bahrarn Ssadeghi den Forugh-Farrochsad-Preis, den Lillian-Hellman/Dashiell-Hammett-Preis von der Human-Rights-Watch-Organisation, und schliesslich jetzt den Erich-Maria-Remarque-Friedenspreis. Abgesehen davon hat der Film ,,Prinz Ehtedschab", der nach meinem Roman gedreht worden ist, vor der Revolution einen Preis fuer die beste Regie beim Welt-Film-Festival Tehran errungen.
Derzeit bin ich Chefredakteur der literarischen Monatsschrift ,,Karnameh", von der bislang fuenf Nummern erschienen sind.
Und die Ernte meiner 4Ojaehrigen schriftstellerischen Taetigkeit, die allerdings nur waehrend 35 Jahren als wirklich ernsthaft zu bezeichnen ist, denn nur Werke aus dieser Zeit wurden veroeffentlicht? Angst vor Inhaftierung und Terror-Akten, aber auch eben diese Erzaehlungen; dass ich in meiner Heimat bekannt bin; Uebersetzungen in verschiedene Sprachen und die Verleihung z. B. dieses Preises .
Was immer geschehen mag, ich werde in meine Heimat zurueckkehren, um zu schreiben. Ich habe halbfertige Arbeiten, die ich abschliessen moechte.
Waehrend der paar Monate, die seit der Ermordung einiger Schriftsteller vergangen sind, habe ich nur selten allein das Haus verlassen, nicht einmal, um eine Schachtel Zigaretten zu holen.
Einer der Gruende, die zu meiner Entlassung aus dem Universitaetsdienst gefuehrt haben, war die Veroeffentlichung eines Artikels in einer Zeitschrift. Drei Baende von mir wurden auf Farsi in Stockholm gedruckt, und ich glaube nicht, dass ihr Druck im Iran in absehbarer Zeit erlaubt werden wird. Einem meiner Romane wird seit zwanzig Jahren die Druckerlaubnis verwehrt, und die neunte Auflage meines bekanntesten Romans ,,Prinz Ehtedschab" wartet seit sieben Jahren auf die Freigabe zum Vertrieb, dies, nachdem einige Male die Druckerlaubnis dafuer sowohl unter dem Schah-Regime als auch ein neuntes Mal nach der Revolution ausgesprochen wurde. Auch der erste Band einer Sammlung meiner Werke wartet seit vier Jahren auf die Druckerlaubnis.
Das ist aber nicht die einzige Ernte meines Schreibens. Ich wurde wiederholt in andere Laender eingeladen, und obwohl ich seit siebzehn Jahren keine feste Arbeit mehr habe, habe ich mit Schreiben und Redigieren der Werke anderer und jetzt als Chefredakteur einer literarischen Zeitschrift meinen Lebensunterhalt bestritten. Wir haben eine Wohnung und ich ein kleines Studio zum Schreiben. Wir haben auch einige Jahre nur von dem Einkommen meiner Frau gelebt. Wie ich schon sagte, ist sie Uebersetzerin, und sie hat, glaube ich, zwanzig Buecher verschiedener Autoren uebersetzt, kritische Schriften, Erzaehlprosa und sogar Werke ueber Psychologie und Architektur.
Trotz allem war fuer mich Schreiben immer eine Notwendigkeit. Ob nun diese Notwendigkeit mit Gefahr verbunden ist oder nicht, ist von zweitrangiger Bedeutung. Also schreiben wir, weil wir schreiben muessen.
In einer Kurzgeschichte, die zu Beginn meiner schriftstellerischen Taetigkeit veroeffentlicht wurde, besuchen ein paar Maenner unangemeldet einen Freund und fliehen nach einem Vorfall. Und jetzt erzaehlen sie, was an jenem Abend dort wirklich passiert ist. Es wird klar, dass sie verschiedener Meinung darueber sind, was damals vorgefallen ist. Schliesslich koennen sie nicht herausfinden, ob der Freund Selbstmord begangen hat oder ob er den Vorfall bewusst und vorsaetzlich in Szene gesetzt hat, um jetzt nach Veraenderung seines Aeusseren, vor seinen alten und neuen Freunden sicher zu sein.
Sie sehen, dass das Erkennen der anderen mittels Erzaehlens verschiedener Vorfaelle am Anfang meiner schriftstellerischen Taetigkeit stand und auch spaeter in vielen Geschichten weitergefuehrt wurde. Manchmal dienen solche Bemuehungen dazu, sich selbst, seine Vorfahren und schliesslich eine Epoche der Geschichte zu erkennen. Prinz Ehtedschab verwandelt in dem gleichnamigen Roman sein Haus in ein Gefaengnis fuer seine Frau, um sie zu erkennen. Er stellt auch eine Dienerin fuer sie ein, damit sie ihm abends alles, was seine Frau sagt und tut, berichtet. Nach dem Tod seiner Frau noetigt er die Dienerin, sich wie ihre Herrin zu schminken und deren Redeweise und Verhalten nachzuahmen. Von da an ist die Dienerin gezwungen, sowohl die Rolle der Frau als auch die der Dienerin zu spielen. Am Ende kommen wir zu dem Ergebnis, dass er nicht nur seine Frau nicht kennengelernt hat, sondern sogar nicht einmal mehr weiss, wie er selbst heisst.
Wir erkennen die anderen an ihrem Verhalten und an ihren Aeusserungen. Da aber diese objektiven Tatsachen den Filter unserer subjektiven Wahrnehmungen passieren muessen, ist das, worauf wir uns berufen, voller Vorurteile, es sind unsere persoenlichen Eindruecke. All dies erfaehrt eine sprachliche Ausgestaltung und erscheint in Form einer Geschichte. So sind Erzaehlungen eines der wichtigsten Mittel zum Erkennen der anderen.
Wir schreiben also, um die anderen zu erkennen.
Wir Schriftsteller ziehen manchmal auch zur Selbsterkenntnis Nutzen aus die sem Hilfsmittel. Vor sehr langer Zeit habe ich eine Geschichte geschrieben und dann mit der Absicht, mich mit der Wortmelodie zu beschaeftigen, den Text auf Band gesprochen. Eines Abends, als ich meiner eigenen Stimme lauschte, habe ich am Tonfall erkannt, dass sich der Erzaehler der Geschichte verliebt hatte. Die Ereignisse in einer Erzaehlung sind manchmal der Niederschlag eines Ereignisses in meinem eigenen Leben. Ich trete aber immer ganz bewusst nur als dessen Erzaehler auf. Nach dieser Geschichte habe ich sechs weitere geschrieben, ueber alltaegliche Begebenheiten, die mir selbst oder in meiner Umgebung geschehen waren. Das Ergebnis waren sieben zusammengehoerige Erzaehlungen, ein Zwischending zwischen einem Roman und sieben zusamrnenhaengenden Kurzgeschichten. Einige Kritiker haben gemeint, dass dies ein Registrieren der Lage der Intellektuellen jener Zeit in ihrem Widerstreit mit der westlichen Kultur sei, weil die Protagonistin dieser Geschichte eine Frau aus dem Westen ist und der Erzaehler ein der Tradition verpflichteter Mensch. Am Ende, als die Frau wegfaehrt, setzt sich der Erzaehler hin, um das Geschehene zu berichten.
Wir schreiben also, um festzustellen was in unserer ganz privaten Welt passiert - auch hierbei ist das Werkzeug der Erkenntnis die Erzaehlung.
Zur Zeit der islamischen Revolution und sogar noch einige Jahre danach waren die Organisationen und politischen Parteien meist unfaehig zu verstehen, was eigentlich vor sich ging. Ich erinnere mich daran, dass, als ueber Hedjab diskutiert wurde, die meisten dieser Institutionen unter Berufung darauf, dass das wichtigste Problem des Tages der Kampf gegen den Imperialismus sei, die Betonung scheinbar nebensaechlicher Belange wie zum Beispiel der persoenlichen Freiheit als Schlag gegen diesen Kampf betrachteten.
Ich habe damals eine Geschichte unter dem Titel ,,Der Bericht eines Sieges" Der Held darin ist em Kneipenwirt namens Barat, der zu den Widerstandskaempfern waehrend des Schah-Regimes gehoerte und einige Jahre vor der Revolution ein Lokal aufmachte, wo seine Freunde einen Treffpunkt hatten. Barat spielt beim Herunterholen eines Schahdenkmals die Hauptrolle und wird dabei von einer Kugel getroffen. Nachdem er aus dem Krankenhaus entlassen wird, hat sich das neue Regime etabliert, und es ist unmoeglich, Wein auszuschenken. Eine Zeitlang widersetzt sich Barat, doch schliesslich gibt er auf, laesst aber seinen Freunden ab und zu eine Flasche zukommen. Spaeter sind seine alten Freunde darnit beschaeftigt, die Politik einer Trabantenstadt zu bestimmen und ,,Nieder mit Amerika" zu rufen und gehen nicht mehr zu Barat. Eines Abends erfahren sie, dass das Versteck seiner Alkoholika ausgehoben wurde, dass man alles weggebracht und irgendwo ausserhalb der Stadt abgeladen habe, Mit Taschenlampen bewaffnet, machen sie sich auf den Weg, um einen Anteil an all diesem Alkohol zu ergattern. Draussen stellen sie fest, dass anscheinend alle Leute auf dem Weg dorthin sind. Am Ziel angekommen, graben sie mit den Haenden im Boden, stossen sich die Finger blutig und entdecken die Flaschen. Waehrend eines riesigen Gelages kommen die Regierungsbevollmaechtigten und umzingeln alle, als waeren sie Magier aus der Zeit der Sasaniden oder Arsakiden, und werfen einen nach dem anderen zu Boden, um ihn auszupeitschen.
Hier geht es natuerlich nicht um eine khayiamische Verherrlichung trunkener Benommenheit, man kann aber vielleicht zu dem Schluss kommen, dass die Herrschenden immer unter unwichtigen, oft scheinheiligen Vorwaenden damit beginnen, die Leute so umzuformen, wie sie sie haben wollen.
Ein oder zwei Jahre nach der Revolution wurde in der politischen Literatur nur selten erwaehnt, dass man uns gerade in eine andere Form presst. Aber anhand von Erzaehlungen konnte man doch feststellen, was da vor sich ging.
Wir schreiben also, um zu wissen, was geschieht.
Wenn wir schon vermittels Geschichten in das Innere eines anderen schauen koennen, oder wenn wir das, was sich in unserem Inneren abspielt, oder dieses vorbeieilende Leben gestalten und verstehen koennen, sollte es da nicht moeglich sein, dass eine Geschichte auch ueber die Zukunft Auskunft gibt, darueber, was in ferner oder aber wenigstens naher Zukunft das Fazit allen Tuns unserer Zeitgenossen sein wird?
Man sagt, dass sich die Protagonisten von Dostojewskis Romanen erst nach seiner Zeit gezeigt hatten. Es wird aber auch gesagt, dass es diesen Menschentyp schon zu seiner Zeit gegeben habe, er aber nicht hervorgetreten und seine Gegenwart in der russischen Gesellschaft erst durch die Veroeffentlichung der ,,Bruder Karamasoff", von ,,Schuld und Suehne" oder den ,,Daemonen" spuerbar geworden sei. Auch Geschehnisse in den Werken Kafkas entsprechen solchen nach der Zeit, zu der sie niedergeschrieben wurden. Das Verhaeltnis zwischen der Einzelperson und dem Staat im Hitier-Deutschland, im Russland zur Zeit Stalins oder in jeder anderen, unserer Zeit relativ naheliegenden Diktatur, kann vor dem Hintergrund ihrer Erzaehlungen besser erklaert werden.
Sollten uns da wohl Geschichten aus der Zeit vor der Revolution ueber die Ereignisse, die zur islamischen Revolution fuehrten, oder ueber das, was wir waehrend dieser Zeit erlebt haben, informieren?
Ich habe vor zehn Jahren in einem Artikel unter dem Titel ,,Voraussagen in der modernen iranischen Literatur" in Erzaehlungen vorrevolutionaerer Schriftsteller Beispiele dafuer aufgezaehlt. Deren Wiederholung ist hier schon mangels Vertrautheit des Publikums mit dern Thema nicht erforderlich. Ich darf vielleicht aber daran erinnern, dass man, haette man nur die Erzaehlungen und Gedichte der Zeitgenossen mit der noetigen Genauigkeit gelesen, haette erraten koennen, was in ferner und naher Zukunft geschehen wuerde. Als Beispiel laesst sich anfuehren, dass der Zusammenschluss der Intellektuellen mit dem einfachen Volk in unseren Geschichten behandelt wurde. Und bevor in Wirklichkeit eine Frau gesteinigt wurde, haben wir ausfuehrlich darueber gesprochen. Wir schreiben also rnanchmal auch, um zu sehen, was in naher oder ferner Zukunft geschehen wird.
Wichtiger als das bisher Erwaehnte sind meiner Meinung nach die gaengigen Strukturen der ein Volk bestimmenden Kukur. Auslaendische Maechte oder z. B. der Imperialismus oder innerhaib der Grenzen eines Landes das jeweilige Regime koennen nur dann wirklich Erfolg haben, wenn sie, sich auf solche Strukturen stuetzend, vorgehen. So glauben wir z. B. von alters her an die Existenz des absolut Guten und Boesen, und viele von uns sind Fatalisten. Unsere Regenten haben unter Berufung auf geoffenbarte oder doch von Gott bestaetigte Quellen ueber uns regiert. ,,Von Gottes Gnaden" oder ,,der Schatten Gottes" zu sein sind fuer uns gelaeufige Wendungen. Das geschriebene oder gesprochene Wort ist fuer uns immer noch heilig. Fuer die meisten dreht sich alles um das Wort. Ich habe diese und viele andere Strukturen in einem Roman als ,,die boesen Geister" bezeichnet und ebenda gesagt, dass der Schriftsteller manchmal diese Geister beschwoert und sie den Leuten vorfuehrt: Das hier, ihr seht's ja selber, sind eure Dschinnen, eure Teufel!
Ein Weg, um diesen Geistern Gestalt zuverleihen, ist, natuerlich meiner Meinung nach, die Wiederbelebung von Ueberlieferungen, die Arbeit an Volksmaerchen, Volksglauben, Folklore.
Ich habe, anfaenglich eher intuitiv, spaeter bei voller Beherrschung des Materials und der Arbeitsmethode, eine Reihe von Geschichten geschrieben unter dem Titel ,,Die vierzehn Heiligen 1, 2 usw." Davon wurden nur vier kurze und eine laengere Erzaehlung gedruckt. Da ich aber sogar schon unter dem Schah-Regime Probleme mit der Zensur bekam und mich Fehlurteilen seitens der Kritiker und Leser ausgesetzt sah, habe ich fuer die anderen in Frage stehenden Erzaehlungen nicht mehr diesen Titel verwendet. Die Zensoren haben geglaubt, der Titel sei ein Affront gegen die Imame. Ich hatte natuerlich vom Material und sogar der Technik religioeser Erzaehlungen Gebrauch gemacht. Aber ich hatte nie die Absicht, den Glauben meiner Landsleute zu beleidigen.
In der ersten Geschichte beherrscht in einem Dorf nach seltsamen Vorkommnissen eine Vogelscheuche die Gedanken und Gefuehle der Leute. In der zweiten laden die Bewohner eines zurueckgebliebenen, abgelegenen Dorfes, die wuenschen, dass ihr Ort zu einem Zentrum werden sollte und sich dann entwickeln wuerde, einen Seiyed zu sich ein, schneiden ihm waehrend eines Passionsspiels den Kopf ab und beerdigen ihn ebenda. Die fuenfte Geschichte schliesslich ist eine Mischung unterschiedlicher Legenden, die alle die Endzeit betreffen, schliesslich erscheint der Antichrist und behauptet, der Verheissene zu sein
Wir schreiben also, um die boesen Geister der Leute zu beschwoeren.
Darueber hinaus sind Erzaehlungen in aussergewoehnlichen Zeiten wie zum Beispiel in solchen einer Diktatur, zu deren Besonderheiten ja die Zensur des Wortes gehoert, auch Fingerzeige der Geschichte, manchmal sogar Berichte von alltaeglichen Ereignissen, sie dienen der Nachrichtenuebermittlung, so etwas wie die Meldungen in den Zeitungen. Also sind unsere Erzaehlungen mal Zeitungsnachrichten, mal Fingerzeige der Geschichte und nur selten die Geschichte des Volksempfindens.
Als ich bei meiner letzten Reise nach Amerika im Frankfurter Flughafen auf die ersten amerikanischen Beamten traf, stellte ein Offizier meinen Koffer auf einen Sockel und schaute sich alles an, was drinnen war. Natuerlich fand er nichts. Wieder durchsuchte er ihn, wieder fand er nichts. Ich stand da und wartete. Ein drittes Mal holte er den ganzen Inhalt des Koffers heraus, untersuchte alles, schaute jeden einzelnen Gegenstand genau von oben bis unten an und packte schliesslich alles wieder ein. Wieder nichts. Abet er gab noch nicht auf. Er warf einen Blick auf mich und fing wieder von vorne an. Ich erinnere mich nicht daran, wie oft sich das wiederholte. Langsam wurde ich nervoes. Ich fragte mich, ob Hemingway wirklich ein Amerikaner gewesen war oder Faulkner. Wenn der Zollbeamter diese Autoren schon nicht gelesen haben sollte, so doch wenigstens in der Schule eine Geschichte von Hawthorne. Als er wieder den ganzen Koffer entleerte, wurde mir klar, dass er in mir eine Verkoerperung des Bildes sah, das er vom Fernsehen her kannte: ein Iraner, der die amerikanische Flagge verbrennt oder mit geballten Faeusten ,,Nieder mit Amerika!" bruellt. Das Dilemma war, dass er die Werke Hedayats oder Saedis oder Sadeghis nicht gelesen hatte. Schliesslich war er's muede. Der Schweiss war ihm ausgebrochen, er entschuldigte sich und erlaubte mir, nach einigen Stunden den Fuss auf sein Land zu setzen, das auch das Land von Dos Passos, von Gertrude Stein, Arthur Miller und Susan Sontag ist.
Wir schreiben also, damit unsere Leser trotz der Bilder im Fernsehen, der Tagesnachrichten und Propagandafilme die anderen Nationen mit den Augen eines Schriftstellers des betreffenden Landes sehen und kennenlernen.
Toleranz zwischen Angehoerigen verschiedener Kulturen kann auch durch das zu Geschichten gewordene Wort ermoeglicht werden.
Vielleicht ist das auch der Grund, warum in meiner Heimat Erzaehlungen so vehement angegriffen werden und warum es noch immer Kriege auf der Welt gibt und es so ein weiter Weg ist, bis ueberall Friede herrscht. Genau aus diesem Grund aber muessen wir weiterschreiben, weiteruebersetzen.
Bei Schiessuebungen feuern Soldaten auf Puppen, Wenn man so etwas immer wieder macht, fuehrt es dazu, dass der Gegner als Puppe erscheint. Schlimmer noch ist, dass wir Menschen im Krieg mittels ueblicherweise durch das Fernsehen ausgestrahlter Propaganda oder durch Zeitungen, Flugblaetter und Plakate erreichen, dass unsere Soldaten den Gegner nicht als einen Menschen mit einer bestimmten Vergangenheit, mit Wuenschen und Hoffnungen und voller Liebe sehen, sondern als Tier, Menschenfresser und Unglaeubigen und auf diesen ruhigen Gewissens zielen koennen. Wenn die Soldaten bei den Schiessuebungen lernen, in den anderen nur Puppen zu sehen, oder die Piloten, dass die Haeuser anderer Menschen nur Punkte auf dem Monitor sind, so erziehen Erzaehlungen dazu, in dem anderen einen ganz besonderen Menschen zu sehen, etwas Einnmaliges, dazu, dass wir manchmal sogar, so wie bei Saint Exupery, beim Anblick eines Lichtes ein Leben sehen, eine Familie am Abendbrottisch, eine Mutter, die ihr Kind stillt.
Wir kommen also zu cler Erkenntnis, dass wir, wir alle, schreiben und lesen, damit ganz verschiedenartige Menschen nebeneinander und miteinander auf diesem kleinen, aber immer noch schonen Planeten leben koennen.
Huschang Golschiri Dankesrede
Erich Maria Remarque Friedenspreis der Stadt Osnabrueck
|